Um ein besseres Verständnis für die tiefgreifenden Veränderungen in diesem Bereich der Gesellschaft zu gewinnen, hat die Zeitschrift "Free China Review" vier Experten eingeladen, ihre Ansichten auf einem Seminar zu äußern, das von der stellvertretenden Chefredakteurin Betty Wang (王國珠) geleitet wurde.
Teilnehmer waren Tseng Chao-hsu (曾昭旭), außerordentlicher Professor am Graduierten-Institut für Chinesische Literatur der Nationalen Zentral-Universität und Autor vieler öffentlicher Vorträge über Fragen von Sexualität und Ehe, Annie Chen (陳艾妮), Herausgeberin von "Woman ABC", einer von Taiwans meistgelesenen Frauenzeitschriften, Peter Huang (黃建福), Geschäftsführer der Orion Communication Co. und Produzent der Fernsehsendung "Frauen, Frauen", einer bahnbrechenden Talkshow, die Fragen der Sexualität und der Beziehungen zwischen Männern und Frauen aufgreift, und Wen Hsiao-ping (溫小平)eine Schriftstellerin, deren Romane häufig um komplexe Probleme zwischen Mann und Frau kreisen.
Beispielsweise war es die Aufgabe des Ehemanns, Geld zu verdienen, während die Frau zu Hause blieb, um sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Der Idealvorstellung nach waren Männer aktiv und stark, Frauen waren sanft und willfährig. Männer standen in der Hierarchie über den Frauen. Koordination und Kommunikation zwischen beiden Partnern, die über das alltägliche Maß hinausging, war unnötig, da beider Rollen klar definiert waren. In der Vergangenheit mußten Mann und Frau einander nicht lieben, bevor sie heirateten. Die Ehe war lediglich eine Struktur, die die Beziehungen in Gesellschaft und Familie am deutlichsten verkörperte. Ehemann und Ehefrau respektierten sich gegenseitig, als ob der andere ein Gast wäre.
Im Laufe der Zeit hat sich all das radikal verändert. Die traditionellen sozialen Gesetze, die die Beziehungen vor und nach der Heirat regelten, werden nicht länger befolgt. Männer und Frauen begegnen einander bald mit einer möglichen Heirat im Sinn, bald ausschließlich aus sexuellen Gründen. Männer und Frauen müssen jetzt neue Regeln der Kommunikation und Interaktion in einer modernen Gesellschaft lernen. Die Beziehungen spielen sich mehr von Mensch zu Mensch ab und nicht mehr so sehr zwischen den Rollenfiguren Mann und Frau.
Auch die Definitionen eines idealen Mannes und einer idealen Frau haben sich verändert. Weil es immer mehr Kleinfamilien gibt, sind die Moralvorschriften, die auf der Struktur der Großfamilie beruhen, oft nicht mehr relevant. Manchmal müssen Mann und Frau jeder für sich gewisse Aufgaben in der Familie übernehmen. Beide müssen daher einen starken, unabhängigen Charakter besitzen.
Früher wurde die absolute Machtstellung des Mannes in der Familie vom konfuzianischen Moralkodex gesichert, während heute die Schwächen der Männer leichter offenbar werden.
Selbst in der traditionellen Agrargesellschaft Chinas waren Männer nicht immer derart stark und selbstbewußt. Es war der mächtige konfuzianische Moralkodex, der den Männern die Macht verlieh, zu dominieren und selbstbewußt zu handeln. Das heutige Konzept der Gleichheit zwischen den Geschlechtern ermöglicht es den Frauen, die Tradition hinter sich zu lassen und ein größeres Maß an Unabhängigkeit vom Manne zu erreichen. Die Frau kann nun wichtige Aufgaben in der Familie übernehmen, die zuvor dem Manne vorbehalten waren. Und da die Frauen geistig und wirtschaftlich immer unabhängiger werden, treten die Schwächen der Männer immer offensichtlicher zutage. In Wahrheit können wir nur von idealen Menschen, nicht von idealen Männern oder Frauen sprechen.
Annie Chen: Gleichgültig, ob es sich um die traditionelle Großfamilie oder um die heutige Kleinfamilie handelt, die grundlegenden Bedürfnisse der Familie sind die gleichen geblieben. Doch der Zweck der Ehe hat sich verändert. In einer agrarischen Gesellschaft vereint eine Heirat das Kapital zweier Großfamilien, und das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau ist weniger wichtig als andere soziale Beziehungen. Doch in einer modernen Gesellschaft ist eine Ehe ein Bündnis zwischen zwei Individuen, und das Verhältnis zwischen den Ehepartnern wird die wichtigste aller Beziehungen.
Das kann natürlich zu Problemen führen. Die Familie ist viel kleiner als zuvor, doch die finanziellen Bedürfnisse und die Anforderungen der Kindererziehung sind die gleichen geblieben. Meiner Meinung nach ist die Kleinfamilie größeren Problemen, stärkerem Druck und größeren Herausforderungen ausgesetzt als die traditionelle Großfamilie. Das hat dazu geführt, daß beide Ehepartner stärker sein müssen. Ein idealer Ehemann muß in der Lage sein, Geld zu verdienen und sich gleichzeitig voll und ganz um seine Frau zu kümmern. Die Frauen verlangen mehr als zuvor.
Die Frauen im heutigen Taiwan sind die glücklichsten in der gesamten chinesischen Geschichte, weil sie auch solche Rollen einnehmen können, die früher ausschließlich Männern vorbehalten waren. Doch das ist keineswegs einfach. Früher wurde von einer Frau lediglich erwartet, daß sie Haushaltsangelegenheiten regelte, doch nun muß sie in der Lage sein, auch Probleme außerhalb dieses Bereichs zu meistern. Wenn beispielsweise ein Ehepaar plant, eine Wohnung zu kaufen, muß die Frau gewöhnlich ihren Teil an der finanziellen Verantwortung tragen. Das bedeutet natürlich, daß der Mann heute mehr von seiner Frau verlangt.
Ein Grund für die niedrigen Scheidungsraten in der Vergangenheit war, daß die Großfamilie über soziale Möglichkeiten verfügte, die Lösung von Problemen zu erleichtern. Heute befinden wir uns in der entgegengesetzten Situation. Probleme tauchen schneller und häufiger auf, und sie müssen von den Ehepartnern allein gelöst werden.
Peter Huang: Die Fernsehsendung "Frauen, Frauen" war ursprünglich mit der Absicht konzipiert worden, Frauen die Möglichkeit zu geben, einmal ungehindert ihre Meinung zu sagen. Doch ich habe an unseren Studiogästen festgestellt, daß es schwierig ist, chinesische Männer dazu zu bringen, ihre Herrschaftsbereiche aufzugeben und den Frauen zu gestatten, neue Rollen einzunehmen.
Die Rollen von Männern und Frauen haben sich verändert, weil unsere heutige Zeit großes Gewicht auf Individualismus legt. Beziehungen zwischen Männern und Frauen haben drei verschiedene Funktionen: materiell, geistig und körperlich. Die materielle Funktion, die in der Gewährung finanzieller Unterstützung besteht, ist bis heute die gleiche geblieben wie in der Vergangenheit. Auf der geistigen können viele Paare, obgleich Unvereinbarkeit der Temperamente und Haltungen ein wichtiger Scheidungsgrund ist, noch immer nicht erklären, warum sie nicht in der Lage sind, ihre Differenzen zu lösen. Was die körperliche Funktion betrifft, glaube ich, daß Sex eine sehr wichtige Rolle bei heutigen Mann-Frau-Beziehungen spielt. Im Gegensatz zu früher wird heute offener über Sex gesprochen.
Auch glaube ich, daß es in der heutigen Gesellschaft schwieriger ist, ein guter Ehemann oder eine gute Ehefrau zu sein. In der Kleinfamilie ist die Distanz zwischen beiden Partnern geringer, und es gibt keine Pufferzone wie die Schwiegermutter oder andere Verwandten mehr.
Wen Hsiao-ping: Die traditionelle Großfamilie funktionierte anders als die heutige Kleinfamilie. In den Augen seiner Eltern und der anderen Verwandten war der Mann ein guter Sohn. Aber seiner Frau gegenüber war er derjenige, der Befehle gab. Der Status der Frau war gleich null. Sie durfte keine eigene Meinung haben, sie war ohne eigene Stimme, ein bloßer Schatten. Eine Frau hatte keine Möglichkeit, unabhängig zu sein, und wenn sie es versuchte, war das gleichbedeutend mit einer Rebellion gegen den gesamten Familienclan.
Heutzutage werden ein guter Ehemann oder eine gute Ehefrau nach anderen Kriterien beurteilt. Zum Beispiel wünscht sich ein Mann lieber eine Frau, die einen Beruf hat. Abgesehen von ihrer Verantwortung für die Kindererziehung wird von der Frau auch erwartet, daß sie finanziell zum gemeinsamen Lebensunterhalt beiträgt. Natürlich wird auch heute noch, wie in der Vergangenheit, die Kindererziehung als wichtigste Aufgabe der Frau angesehen. Wenn heutzutage zum Beispiel ein Verbrecher verhaftet wird, stürzt sich die Presse zuerst auf seine Mutter, um sie zu interviewen, als ob sie allein für alles verantwortlich wäre. Kaum jemals wird der Vater interviewt oder ihm die Schuld zugeschrieben. Ich glaube, daß eine solche irreführende Orientierung darin begründet liegt, daß die Medien von Männern dominiert werden.
Frauen müssen sich heute mit einer größeren Welt auseinandersetzen, und sie werden mit allen möglichen Herausforderungen konfrontiert. Noch vor wenigen Jahren wurden jährlich auf ganz Taiwan sogenannte "Modell-Mütter" ausgewählt, nach dem Kriterium, möglichst viele Kinder geboren zu haben, die später die Militärakademie besucht oder Doktorgrade erworben haben. Das gehört nun der Vergangenheit an. Während jetzt von den Frauen erwartet wird, daß sie unabhängiger sind, ist es nicht ungewöhnlich, daß Männer für ihre Sanftheit und Zärtlichkeit gelobt werden. Wenn wir in einem Film einen Mann weinen sehen, denken wir heute, daß er ein richtiger Mensch ist.
Früher umgaben sich die Männer sorgfältig mit einem schützenden Panzer und gaben vor, ohne Makel zu sein. Die Frauen heute haben noch immer die Fähigkeit, anpassungsfähig wie Wasser zu sein, aber jetzt können sie Gefäße von jeder Art und Form füllen. Sie nehmen andere Rollen ein und erfüllen andere Funktionen. Ich halte es für einen positiven Trend, daß die Männer versuchen, Aufgaben zu erfüllen, die man früher als ausschließlich für Frauen geeignet ansah, und umgekehrt. Es gibt keinen Grund für die Männer, die Frauen zu beherrschen, oder für die Frauen, Männer niederzutreten. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau sollte harmonisch sein.
Tseng: In früheren Zeiten pflegte eine Frau, die unabhängig war, diese Qualität zu verbergen, weil die Leute sie sonst beschuldigen würden, ihrem Ehemann Unglück und frühen Tod zu bringen. Frauen mit sicherem Auftreten und gewandter Zunge waren berüchtigt; oft galten sie als leichtfertig oder lüstern. Heute würden solche Qualitäten einer Frau zu einer hervorragenden PR-Managerin machen. Die Regeln sind nicht mehr so streng wie früher. Wenn nötig, kann der Ehemann auch zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern, und die Frau kann Karriere machen.
Manche Männer sind noch immer der Meinung, daß eine starke und unabhängige Frau unweiblich sei. Doch meiner Ansicht nach sollte Weiblichkeit nur dort eine Rolle spielen, wo eine Frau geliebt wird oder sie einen Mann liebt. Als Freundin oder Arbeitskollegin besteht keine Notwendigkeit für sie, sich feminin zu verhalten. Es gibt verschiedene Bereiche, auf denen eine Frau Unabhängigkeit besitzen kann - finanziell, sozial, in Liebesbeziehungen und in ihrer Persönlichkeit. Der Feminismus in Taiwan befindet sich noch auf einer Stufe, auf der die soziale Unabhängigkeit überbetont wird.
Chen: Früher legte die Gesellschaft die Frauen in Ketten. Heute können wir unsere eigenen Entscheidungen treffen, die Scheidung mit eingeschlossen. Doch zur gleichen Zeit fehlt uns eine wichtige Qualität: die Selbstbeherrschung. Es ist gut für eine Frau, wenn es in ihrer Ehe Liebe gibt, doch selbst ohne Liebe kann eine Ehe harmonisch sein. Obgleich viele von uns die Wichtigkeit der Freiheit betonen, glaube ich, daß wir stärkeres Gewicht darauf legen sollten, konfliktfrei mit anderen Menschen umzugehen, statt hundertprozentige Freiheit zu genießen.
Wang: In welchem Maße hat der verstärkte Einfluß intellektueller Moden und Trends aus dem Ausland die Art und Weise verändert, in der Männer und Frauen in der Öffentlichkeit und im privaten Rahmen miteinander umgehen?
Chen: Westliche Moden und Trends, besonders die der amerikanischen Kultur, haben ohne Zweifel die Männer und Frauen hier beeinflußt. Und ich bezweifle sehr, ob wir wirklich alle die Ideen über das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die aus den USA zu uns kommen, übernehmen sollten. Deren Betonung der Freiheit in Mann-Frau-Beziehungen führt vielmehr zu einem Gefühl der Unsicherheit. Die hohen Scheidungsraten komplizieren überdies die Familienangelegenheiten und treffen besonders die Kinder.
Männer oder Frauen zu übertrieben großer Unabhängigkeit anzuhalten, führt dazu, daß es immer mehr Singles gibt. Singles üben Raubbau an den Ressourcen, weil sie einen eigenen Lebensraum für sich beanspruchen und nur ihren eigenen persönlichen Bedürfnissen und Interessen leben. Warum war es früher üblich, daß drei Generationen unter einem Dach lebten? Sehr einfach: auf diese Weise wurden Ressourcen gespart.
Huang: Der Einfluß ausländischer Filme, in denen Fremde einander schon bei der ersten Begegnung küssen, hat die sozialen Werte und Verhaltensweisen verändert. Früher signalisierte der Kuß, daß jemand die Aufnahme einer Beziehung akzeptierte oder ihr zustimmte, heute hat er kaum eine Bedeutung mehr. Wenn in der Vergangenheit ein Mann und eine Frau eine Beziehung eingingen, hatten sie gewöhnlich eine Heirat im Sinn. Doch die sozialen Veränderungen haben zu einer abnormen geistigen Einstellung geführt. Die Menschen erwarten von Anfang an Sex, und die Liberalisierung der Gesellschaft hat den Trend zu solchen Verirrungen noch verstärkt.
Hier kommen wir zum größten Unterschied zwischen Männern und Frauen. Die meisten Frauen haben sexuelle Kontakte um der Liebe willen, während viele Männer auch zum bloßen Vergnügen mit einer Frau schlafen können. Das ist ein wichtiger Grund dafür, daß überall in der Stadt Etablissements zu finden sind, die sexuelle Dienstleistungen anbieten. Als Angehörige des schwächeren Geschlechts fürchten Frauen, verletzt zu werden, wenn sie rein sexuelle Beziehungen mit Männern eingehen. Sie brauchen das Gefühl der Sicherheit, das mit einer Liebesbeziehung einhergeht.
Wen: Soziale Normen für Männer und Frauen können von zwei Blickwinkeln aus diskutiert werden - dem moralischen und dem rechtlichen. Jahrhundertelang hat die Gesellschaft dem Manne außereheliche Beziehungen zugestanden. Die Medien berichten über solche Beziehungen, als seien sie vollkommen akzeptabel. Im Falle einer Frau wird ihre Beziehung in den Medien jedoch vielleicht auf andere Weise beschrieben oder weitgehend heruntergespielt. Selbst heute noch wird die Polygamie bei Männern akzeptiert, solange sie in der Lage sind, ihre Frauen zu unterstützen.
Heutzutage besitzt die Frau mehr Mut, ihre Gefühle zu zeigen, während sie früher bloß im Verborgenen Tränen vergoß, wenn sie sich mit einer Ehekrise oder dem Ende einer Beziehung konfrontiert sah. Heute kann sie für ihre eigene Sache eintreten, denn sie weiß, daß sie sich von ihrem Mann aufgrund von dessen Untreue scheiden lassen kann, und daß es draußen noch viele andere Männer gibt. Die negative Seite ist jedoch, daß viele Menschen die Scheidung für den einfachsten Weg zur Lösung von Eheproblemen halten könnten.
Tseng: Sex pflegte für Männer und Frauen eine unterschiedliche Bedeutung zu haben. Herrscher oder erfolgreiche Männer, die ein aktives Sexualleben führten, wurden als Genießer angesehen. Diejenigen, die weniger erfolgreich waren, aber großes Interesse an Sex hatten, nannte man Lüstlinge. Im Gegensatz dazu garantierte Sex den Frauen Sicherheit. Diese Auffassungen führten zu einer starken sexuellen Unterdrückung. So brachte ein Verlust an Selbstachtung oder Frustration bei der Arbeit Männer oft dazu, sexuelle Befriedigung zu suchen, manchmal auf dem Wege der Vergewaltigung. Auf der anderen Seite benutzten Frauen den Sex, um einen Mann an sich zu binden, und gingen sogar soweit, Kinder als ein Mittel einzusetzen, um den Mann an seine Verantwortung zu erinnern.
Heute ist der Sex von solchen Auffassungen befreit. Wir befinden uns zur Zeit in einer Übergangsperiode, die in zwei Phasen eingeteilt werden kann. Die erste Phase besteht darin, den Sex von seinen früheren Konnotationen zu trennen, die in Wahrheit mit Sex im eigentlichen Sinne des Wortes gar nichts zu tun hatten. Sex bedeutet nicht länger eine Ehre für den Mann oder Sicherheit für die Frau. Doch wenn wir diesen Weg immer weitergehen, kommen wir eines Tages an einen Punkt, an dem sexuelle Freiheit langweilig wird. In der zweiten Phase gewinnt Sex eine neue Bedeutung. Er geht Hand in Hand mit der Liebe. Doch Taiwan befindet sich erst auf der ersten Stufe dieser Entwicklung. Die Menschen hier sind immer noch äußerst neugierig auf Sex.
Chen: Verzerrte Auffassungen vom Sex sind heute vor allem aufgrund der Konsumhaltung, die damit verbunden ist, zum Problem geworden. Unter starkem beruflichem Druck suchen Männer nach Ablenkung durch Sex, Frauen jedoch nicht. Das hat mit den Konsumgewohnheiten zu tun. Pornographische Veröffentlichungen sind überall leicht erhältlich, und sexuelle Dienste werden in zahllosen Etablissements auf Taiwan angeboten. Solche Einrichtungen haben es Männern sehr bequem gemacht, sexuelle Befriedigung zu finden. Es ist diese Bequemlichkeit, neben anderen komplexen sozialen und menschlichen Faktoren, die unsere Gesellschaft dazu gebracht hat, exzessive Betonung auf Sex zu legen. Angesichts des ungehinderten Flusses von Informationen, die, während wir uns in diesem Übergangsstadium befinden, aus dem Ausland zu uns hereinkommen, sollten wir versuchen, die Entwicklung dieser Trends zu steuern. Wir müssen darauf hinweisen, wo die Probleme liegen, statt ausschließlich Informationen aus dem Ausland aufzunehmen.
Wang: Hat sich etwas in der Art und Weise verändert, in der Ehemänner und Ehefrauen gemeinsame Einkünfte und Ausgaben regeln? Wer in der Familie ist gewöhnlich für die Finanzen verantwortlich?
Chen: Hier kann ich keine Veränderungen sehen. Auch wenn Kleinfamilien an die Stelle von Großfamilien getreten sind, ist die Regelung der finanziellen Angelegenheiten in den Händen der Frauen geblieben. Früher hatten Frauen bei den Familienangelegenheiten kaum mitzureden, und sie besaßen keinerlei Rechte. Doch Mütter verfügten über eine gewisse Macht im Hause. Das ist teilweise aus der Tatsache zu erklären, daß die Mutter der Familie gegenüber das Wohlergehen künftiger Generationen garantieren mußte. Zusätzlich mußte sie als Mutter des ältesten Sohnes, der später Oberhaupt der Familie werden würde, deren finanziellen Status sichern. Doch auch wenn sie die Hand auf dem Geldbeutel hielt und die Verantwortung für die Familienfinanzen trug, war es ihr Ehemann, der das Besitzrecht hatte.
Heutzutage sind die Ansichten der Mutter gleichermaßen wichtig, ob es sich nun um kleine oder um große Ausgaben handelt. Männer finden es bequemer, wenn ihre Frauen die Familienfinanzen regeln. Doch die Situation hat sich insofern verändert, als nun auch die Frauen Geld verdienen.
Wen: Schon vor ein paar Jahrzehnten sah es so aus, als könnten Frauen frei über das Geld verfügen, aber ihre Ausgaben beschränkten sich in Wirklichkeit auf relativ kleine Summen. Größere Ausgaben, wie der Kauf eines Kühlschranks oder eines Klaviers, mußten mit dem Ehemann besprochen werden. Die Frauen waren die Finanzverwalter, aber die Männer trafen die Entscheidungen. Heute, wo die Frauen selbst berufstätig sind und ihre eigenen Karrieren verfolgen, sind sie in einer besseren Position. Sie müssen ihre persönlichen Ersparnisse nicht länger verbergen; sie können selbst Bankkonten eröffnen und den eigenen Eltern offen Geld geben.
Früher mußte ein Mann seine Frau in irgendeiner Form entschädigen, wenn er sie verstieß. Aber heute, wo viele Frauen ihren eigenen Beruf haben, hat sich die Situation umgekehrt. Oft ist es die Frau, die die Scheidung einreicht. Daher ist sie verpflichtet, dem Mann Unterhalt zu zahlen, ihm die Wohnung und das Auto zu überlassen. Aber in jedem Fall erhält die Mutter das Sorgerecht für die Kinder. Das ist unfair. Für die Kinder sind beide Elternteile verantwortlich, nicht nur die Mutter. Die Furcht vor diesen Lasten hat viele Frauen davon abgehalten, die Scheidung zu beantragen. Die Männer greifen dagegen auf dieselbe Methode zurück, die sie schon immer angewendet haben: sie kontrollieren ihre Frauen, indem sie ihre Finanzen manipulieren. Das hat manche Frauen dazu gezwungen, alles aufzugeben im Tausch gegen die Freiheit.
Chen: Ich bin keine Befürworterin einer Beziehung, die Männer und Frauen in einen Gegensatz zueinander bringt. Männer müssen nicht unbedingt ständig sanft und zärtlich sein, und Frauen brauchen jemanden, der die Dinge in die Hand nehmen, Hilfe und Unterstützung geben kann. Ehepartner müssen eine Beziehung entwickeln, in der sie sich gegenseitig unterstützen, um die endlosen praktischen Probleme zu lösen, die nach der Hochzeit auftauchen, einschließlich der Säuglingspflege. Jemand muß hinter einem stehen, wenn man fällt. Paare sollten den Ehebund im Einverständnis darüber schließen, daß sowohl Freuden als auch Sorgen geteilt werden müssen.
Tseng: In früheren Zeiten, als die Frau noch keinerlei Rechte besaß, war es eine Sicherheitsgarantie, daß sie das Familienvermögen verwaltete; heute geschieht es mehr oder weniger deshalb, weil es so bequemer ist. Doch erst muß eine genaue statistische Untersuchung vorliegen, ehe man endgültige Aussagen darüber machen kann, ob die Frauen Manager der Familienfinanzen sind oder nicht.
Immer mehr Frauen steigen heute in Führungsebenen auf, doch nach wie vor sind zahlreiche Benachteiligungen zu überwinden.
Wang: Immer mehr Frauen werden heute in leitenden Positionen tätig. Gibt es in ihren Einkommen und Karrierechancen einen Unterschied zu denen von Männern mit etwa gleicher Qualifikation und Erfahrung?
Tseng: Auch über die Berufe, in denen Männer und Frauen gleiche oder ungleiche Behandlung erfahren, muß eine objektive Untersuchung durchgeführt werden. Im akademischen Bereich ist die sexuelle Diskriminierung mehr oder weniger inexistent. Frauen beziehen Gehälter in gleicher Höhe und haben gleiche Aufstiegsmöglichkeiten. Im Vergleich zu anderen Berufen gibt es einen relativ hohen Prozentsatz von Frauen, die zu Leitern oder stellvertretenden Leitern von Universitätsinstituten ernannt worden sind. Doch das mag im Bereich der Politik anders sein.
Chen: Als Unternehmerin kann ich dazu sagen, daß Frauen auf der Führungsebene in Industrie und Handel ganz ohne Zweifel benachteiligt werden. Von manchen Großunternehmen ist bekannt, daß sie Beförderungen von Frauen, ihrer Qualifikation und Erfahrung zum Trotz, offen abgelehnt haben, mit der Begründung, daß es dafür keinen Präzedenzfall gäbe. Die Frauen haben bereits eine Menge erreicht, aber sie sind erst auf halbem Weg zum Ziel.
Viele Frauen arbeiten im Finanz und Managementbereich, doch auf der Ebene, wo Entscheidungen getroffen werden, im Bereich Forschung und Entwicklung, beim Marketing und in den Vorständen ist die Zahl der Frauen noch immer sehr gering, obgleich jedes Jahr fast gleich viele junge Männer und Frauen die Universitäten absolvieren.
Ein Mann wird einer Frau mit gleichen Qualifikationen gewöhnlich vorgezogen, und das oft, weil Männern als den Hauptverdienern des Lebensunterhalts mehr Sympathie entgegengebracht wird. Andererseits kann es sein, daß eine Frau eine offene Position auf der Managementebene ausschlägt, weil sie im kommenden Jahr ein Kind erwartet oder weil sie mehr Zeit auf die Erziehung ihres Kindes verwenden will. Selbst ihr Vorgesetzter wird es sich aus reiner Besorgnis zweimal überlegen, ob er ihr die größere Last, die mit einer höheren Position verbunden ist, auf die Schultern laden soll.
Wen: In privaten Unternehmen, wo die Regeln flexibler sind, kann es sein, daß ein männlicher Kollege ein höheres Anfangsgehalt als eine Frau in gleicher Position bezieht. Und selbst wenn beider Anfangsgehalt und Qualifikationen gleich sind, kann es sein, daß der Mann schneller aufsteigt als die Frau. Staatsangestellte erhalten unabhängig von ihrem Geschlecht das gleiche Anfangsgehalt, aber wenige Frauen erreichen die höchsten Ränge, bis hin zu Stufe 14, was der Managementebene entspricht. Wenige Frauen schaffen es bis zu Stufe 13, doch auf Stufe 12 sind weibliche Beschäftigte schon häufiger. Es ist offensichtlich, daß Männer gewöhnlich zuerst in Betracht gezogen werden, wenn eine Stelle frei wird.
Huang: In meiner eigenen Fernsehproduktionsgesellschaft kümmert es mich nicht, ob ein Bewerber männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Ich würde eine Frau nicht ausschließen, wenn es darum geht, die Stelle eines stellvertretenden Produktionsleiters zu besetzen, aber ich muß mehr Faktoren in Betracht ziehen, wenn ich einen Produzenten ernenne. Die schlechteste Wahl wäre eine Frau, die gerade ihre Heirat vorbereitet, denn möglicherweise könnte sie dann im darauffolgenden Jahr ein Kind bekommen, was ihre Arbeit sicherlich beeinträchtigen würde. Für jede Sendung gibt es nur einen Produzenten, und der ist nicht leicht zu ersetzen, wenn die Stelle plötzlich frei wird. Eine Mutter dagegen ist akzeptabel, da die meisten Frauen heutzutage nicht zu Hause bleiben, um sich selbst um ihre Kinder zu kümmern.
Wang: Was bedeutet Feminismus in Taiwan, und welchen Einfluß hat er auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau?
Tseng: Die Entwicklung der Frauenbewegung läßt sich in drei Phasen unterteilen. Die frühesten Pioniere des Feminismus strebten nach Befreiung von ihrer untergeordneten Position und benutzten revolutionäre Mittel, um die Bewegung kraftvoll voranzutreiben und Aufmerksamkeit zu erregen. Während dieser Phase errangen die Frauen ökonomische Macht, indem sie in die Arbeitswelt eintraten und ihre eigenen Karrieren verfolgten.
Ein behutsamerer Ansatz wurde in der zweiten Phase verfolgt, in der die radikale Haltung und Taktik der Anfänge von Bemühungen abgelöst wurde, die vornehmlich darauf gerichtet waren, einen gleichen sozialen Status wie der Mann zu erlangen. Auf juristischer Ebene kämpften die Frauen um ihre Rechte vor dem Gesetz, wie etwa um das Recht auf Vermögensbesitz, das gleiche Recht auf Erbfolge für Söhne und Töchter und das Recht, den Familiennamen der Mutter anzunehmen. Die Frauenbewegung in Taiwan befindet sich gegenwärtig in dieser zweiten Phase. Ich hoffe, daß die Bewegung zu einer dritten Stufe fortschreiten wird, in der die Betonung auf die Entwicklung geistiger Unabhängigkeit gelegt wird. Sie sollte Eigenständigkeit in den Bereichen der Bildung, der Emotionen und der Willenskraft umfassen.
Die Frauen haben auf dem Weg zu einer geistigen Unabhängigkeit nur wenig Fortschritte gemacht, außer auf dem Bildungssektor. Hochschullehrerinnen mit Doktorgraden oder Frauen, die auf ihrem Gebiet außerordentliches Ansehen genießen, erleben oft einen emotionalen Zusammenbruch, wenn sie mit dem Beweis für die Untreue ihres Mannes konfrontiert werden. Vielleicht sind Vereinigungen wie die "Warm Life Foundation" ein Anzeichen dafür, daß wir uns an der Schwelle zum dritten Stadium befinden. Diese Stiftung ermutigt geschiedene Frauen dazu, für sich selbst zu kämpfen und die Abhängigkeit von ihren Ex-Ehemännern zu beenden. In diesem Bereich sind noch größere Anstrengungen nötig.
Chen: Die Frauen in Taiwan mußten nicht selbst für ihre Rechte kämpfen. Männer, die in die Zukunft blickten, bestanden bei der Formulierung der Verfassung der Republik China leidenschaftlich darauf, den Frauen eigene Rechte zu gewähren. Mit einem Male stellten die Frauen fest, daß sie das Recht auf Bildung besaßen, das Wahlrecht und das Recht, in Ämter gewählt zu werden. Die Frauenbewegung auf Taiwan war gleichfalls von internationalen Trends beeinflußt. Sie war keine revolutionäre gesellschaftliche Bewegung, die von unseren eigenen Frauen initiiert wurde.
Bei den verschiedenen Frauenbewegungen im Ausland ist als gemeinsame Orientierung klar zu erkennen, daß der Kampf um gleiche Rechte und gleichen Status aus der Position des Opfers geführt wird. Folglich wurde es zu einer populären Anschauung, daß Frauen unabhängig sein und in der Lage sein sollten, ihr Leben selbst zu gestalten. Aber ich bin nicht der Meinung, daß Frauen nach den Rechten und Fähigkeiten der Männer streben oder um all das kämpfen sollten, was man ihnen zuvor vorenthalten hat. Statt dessen sollten es sich die Frauen zum Ziel setzen, daß ihre eigenen Qualitäten und Wesenszüge, die in der Vergangenheit stets ignoriert wurden, Anerkennung finden. Das ist von der Frauenbewegung bisher vernachlässigt worden. In Wahrheit sollte es das Fundament dieser Bewegung bilden.
Die Frauen müssen die Initiative ergreifen, um ihre Qualitäten und Werte bekannt werden zu lassen, und Forscher dazu anhalten, neue Studien über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern durchzuführen, statt sich auf die Frauenbewegung zu konzentrieren. Die Frauen brauchen dem anderen Geschlecht gegenüber keinen kriegerischen Standpunkt einzunehmen. Viel wichtiger ist für beide Geschlechter, Kompromisse zu machen, um die beiderseitigen Beziehungen zu verbessern.
Wenn wir die Beziehungen zwischen Mann und Frau politisierten, würden die Nachteile größer sein und sich schneller bemerkbar machen als jeder Vorteil, der dabei vielleicht zu gewinnen wäre. Frauen haben zwar das Recht, sich scheiden zu lassen, doch darin liegt mehr Schädliches als Nützliches. Viele Leute befürworten die Scheidung und geben bereitwillig Informationen über die dafür offenstehenden gesetzlichen Wege und über die Rechte, die vom Gesetz garantiert werden. Doch haben wir uns je gefragt, ob die Scheidung die beste Lösung ist, ob die Kinder gefragt werden sollten und was die daraus entstehenden Folgen sind?
Der Feminismus sollte es sich zur Aufgabe machen, gute Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern zu pflegen. Wir sollten unseren eigenen Weg zu unserer eigenen Zukunft bauen. Unsere traditionelle chinesische Erziehung macht es für uns schwierig, die Frauenbewegungen des Westens zu akzeptieren. Es darf wohl die Frage gestellt werden, ob diese Bewegungen die allgemeine Situation in den westlichen Ländern verbessert haben. Die Antwort lautet: nein. Wir können selber sehen, daß die Kinder keine besseren Persönlichkeiten entwickelt haben, sich die soziale Stabilität nicht erhöht hat, das Gefühl der Isolation stärker geworden und das Bedürfnis nach Therapien und psychologischen Beratungen nach wie vor groß ist. Westliche Frauen befinden sich noch immer in einem Übergangsstadium auf dem Wege zu einem besseren Verhältnis zu den Männern.
Ich wünsche mir nicht, daß auch wir diese Übergangsphase durchschreiten müssen. Ich zöge es vor, wenn wir unsere eigenen speziellen Probleme auf der Grundlage unserer eigenen Tradition lösen würden. Unsere Frauenbewegung sollte die chinesische Kultur widerspiegeln.
Huang: Unsere Gesellschaft braucht eine Frauenbewegung, die sich mit vielen traditionellen Aspekten der chinesischen Kultur auseinandersetzt. Ich bin überzeugt, daß der Feminismus auf Taiwan gegenwärtig an Boden gewinnt. Die Frauenbewegung legt stärkeres Gewicht auf Rationalität und geringere Betonung auf Emotionen, doch die Anstrengungen sollten auf Fortschritte in der Gesetzgebung zum Schutz der Rechte der Frau gerichtet sein. Das könnte die Probleme der Frauen wirksamer lösen als bloße Anschuldigungen sexueller Diskriminierung.
Vielleicht nicht gerade ein Vorbild für den alltäglichen Umgang - andererseits aber sollten Männer auch "keine Angst vor fähigen und selbstbewußten Frauen haben" (Wen Hsiao-ping).
Wen: Männer sehen die häuslichen Pflichten noch immer als die Aufgabe der Frau an, obgleich sie von beiden Ehepartnern gleichermaßen getragen werden sollten. Männer denken noch immer in Begriffen wie "meiner Frau beim Abtrocknen und Müllheraustragen helfen". Doch die gesamte Familie trägt die Verantwortung dafür, daß das Geschirr schmutzig ist und daß Abfall produziert wird. Bereits die Idee, daß man "seiner Frau hilft", ist eine falsche Vorstellung. Von Männern kann man erst erwarten, daß sie die Frauen respektieren, wenn sie die richtige Einstellung gewonnen haben.
Ein Mann und eine Frau sollten eine Beziehung entwickeln, die auf gegenseitigem Respekt beruht, und anerkennen, daß sie beide auf gleicher Stufe stehen. Ein Mann sollte keine Angst vor einer selbstbewußten Frau haben oder davor, eine fähige Frau zu heiraten, die eine große Hilfe und Unterstützung für ihn sein kann. Auf der anderen Seite sollte eine Frau nicht davon träumen, ein Mann zu werden. Alles wird sehr viel besser sein, wenn ein Einverständnis über diese Dinge erzielt wird, so daß eine Beziehung entstehen und wachsen kann, in der beide Geschlechter einander respektieren.
(Englische Übersetzung von Merisa Lin und Anna Sung; Deutsch von Klaus Gottheiner)